Impfschaden nach ca. 35 Jahren endlich anerkannt

Beharrlichkeit führt zum Erfolg.

– Beharrlichkeit führt zum Erfolg –

Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit

der Frau M. H.,

– Klägerin –

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dornhoff & Arnal,
Anja Dornhoff, Marcel Arnal,
Bahnhofstraße 36, 57548 Kirchen (Sieg),

gegen

Land Berlin,
vertreten durch d.

Landesamt für Gesundheit
und Soziales Berlin,
Sächsische Straße 28-30, 10707 Berlin,

– Beklagter –

hat die 192. Kammer des Sozialgerichtes Berlin auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juli 2012 durch den Richter am Sozialgericht Ö. sowie den ehrenamtlichen Richter P. und die ehrenamtlichen Richterin W. für Recht erkannt:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 01. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Oktober 2006 verpflichtet, den Bescheid vom 03. März 1976 abzuändern und der Klägerin Beschädigtenversorgung wegen eines Impfschadens ab dem 01. Januar 2002 zu gewähren.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt im Wege eines Zugunstenverfahrens die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Bundes-Seuchengesetz (BSeuchG) bzw. Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen eines Impfschadens.

Die Klägerin, die als erwerbsunfähige Person Leistungen der Grundsicherung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bezieht, wurde am 20.05.1971 nach einer normalen Schwangerschaft geboren. Sie erhielt am 05.11.1971 die erste Impfung mit dem Mischimpfstoff „Quinto-Virelon“. Es handelt sich um eine Kombinationsimpfung gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten (mit einem Ganzkeim-Impfstoff), Poliomyelitis sowie Masern. Am 20.01.1972 erhielt die Klägerin die zweite Impfung.

Nach der zweiten Impfung kam es nach Angaben der Eltern zu erheblichen Beschwerden bei der Klägerin. Am gleichen Tage seien abends und nachts starke Reaktionen wie z. B. Fieber, starke Hautrötung, Durchfälle, Schreien, Unruhe und später Abgeschlagenheit aufgetreten. Es sei am nächsten Tag der Hausarzt, der sie auch geimpft hatte, gerufen worden. Das Fieber, die Durchfälle und die Hautrötung seien innerhalb einer Woche langsam zurückgegangen. Der Kinderarzt, Prof. Dr. S., habe sehr bald von einer „blanden Enzephalopathie“ gesprochen und von der dritten Impfung mit Quinto-Virelon abgeraten. Nach der zweiten Impfung sei mit ihrer Tochter nichts mehr, wie es vorher gewesen sei. Nach einem Zeitraum von ca. vier bis sechs Wochen sei zu den massiven Schlaf- und Essstörungen Schielen und starker Speichelfluss hinzugekommen. Es sei zu einer deutlichen Rückbildung der Artikulation von zuvor geplapperten Worten wie z. B. „Oto“ statt zuvor „Auto“ gekommen. Sie habe keine neuen Wörter mehr gelernt und sei schließlich ganz verstummt bis auf ein äffisches Schreien. Die Tochter habe erst mühsam und nach umfangreichen Therapien wieder gelernt zu sprechen.

Die Eltern der Klägerin beantragen 1975 für sie die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem BSeuchG. Mit Bescheid vom 03. März 1976 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen ab, da die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Impfschadens nicht erfüllt seien. Die Klägerin erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Sozialgericht Berlin. Nachdem das Sozialgericht mehrere Gutachten eingeholt hatte, nahm die Klägerin die Klage 1980 zurück.

Mit Schreiben vom 08.01.2006 beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre damalige gesetzlichen Betreuerin, die Überprüfung des Bescheides von 1976 und erneut die Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen eines Impfschadens. Sie machte geltend, dass der Bescheid aus 1976 nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entspreche und berief sich zur Begründung ihres Anspruchs u. a. auf ein Gutachten von Dr. H. vom 02.11.2005. Dr. H. stellte darin fest, dass bei der Klägerin wenige Wochen nach der zweiten Impfung ein immunologisch durch die Impfung vermitteltes entzündliches Geschehen sich im Bereich der Hirngefäße und des Hirngewebes abgespielt habe. Diese Reaktion habe sich im vulnerablen
Zeitfenster für die Entwicklung von Hirnstrukturen abgespielt, die für die Sprachfunktion von herausragender Bedeutung seien. Der klinische Verlauf und das Zeitintervall zur Impfung machten einen Zusammenhang wahrscheinlich. Eine schon vor der Impfung bestehende Hirnschädigung habe nicht vorgelegen. Die Annahme einer Infektion durch andere Erreger sei rein spekulativ, da im Falle der Klägerin andere Erreger nicht identifiziert worden seien.

Der Beklagte holte im Verwaltungsverfahren ein Gutachten von Prof. Dr. Sch., Arzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin, ein. In seinem Gutachten vom 08.05.2006 kam er zu dem Schluss, dass die Akten keinerlei Symptome oder Befunde enthielten, die einen komplizierten Verlauf der beiden Impfungen am 05.11.1971 und am 20.01.1972 belegten. Die Impfreaktionen (Fieber und Erbrechen von kurzer Dauer) seien im Rahmen einer üblichen Reaktion geblieben. Insbesondere gebe es keinerlei Hinweise auf eine zentralnervöse Impfkomplikation im Sinne einer Enzephalopathie oder Enzephalitis. Damit sei weder ein ursächlicher noch ein mitursächlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Gesundheitsstörungen wahrscheinlich.

Durch Bescheid vom 01.06.2006 und Widerspruchsbescheid vom 20.10.2006 lehnte der Beklagte die Rücknahme seines Bescheides vom 03.03.1976 ab. Die Überprüfung habe ergeben, dass die Vorraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht vorlägen. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. Sch. sei festzustellen, dass weder ein ursächlicher noch ein mitursächlicher Zusammenhang zwischen den beiden Fünffachimpfungen und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen wahrscheinlich sei. Insbesondere gebe es keinerlei Hinweise auf eine zentralnervöse Impfkombination im Sinne einer Enzephalopathie oder Enzephalitis. Die Impfreaktion sei im Rahmen der üblichen Reaktion geblieben. Es müsse daher an der Bindung des bisher erteilten Bescheides festgehalten werden.

Die Klägerin hat am 09. November 2006 Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben und verfolgt ihr Begehren weiter. Sie trägt zur Klagebegründung im Wesentlichen vor:

Sie habe Anspruch auf Beschädigtenversorgung als Impfgeschädigte. Die Gutachten von Prof. Dr. H. und Dr. H. würden das bestätigen. Infolge der Impfung sei es bei ihr zu einer physischen und psychischen Retardierung bzw. einen Entwicklungsknick gekommen. Nach den Feststellungen von Prof. Dr. H. habe die Impfung bei ihr zu einer blanden (schleichenden) Enzephalopathie geführt. Die Einwendung des Beklagten und von Prof. Sch. seien unberechtigt.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 01.06.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 20.10.2006 zu verpflichten, den Bescheid vom 03.03.1976 abzuändern und ihr Beschädigtenversorgung wegen eines Impfschadens ab dem 01.01.2002 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und verweist im Wesentlichen auf deren Gründe. Ergänzend beruft er sich auf mehrere gutachtliche Stellungnahmen von Prof. Dr. Sch., in denen dieser sich zu dem Gutachten und den gutachtlichen Stellungnahmen von Prof. Dr. H. kritisch geäußert hat.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. H. (Facharzt für Innere Medizin) vom 09.03.2010. Prof. Dr. H. gelangt zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin eine Impfschädigung vorliege, da die zweite Impfung zu einer Enzephalopathie/Enzephalitis geführt habe. Der Entwicklungsknick, der bei der Klägerin festzustellen sei, sei eindeutig postvakzinal. Der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) für die Störungen (leichte Artikulationsstörung, leichtes Wackeln des Kopfes, Hirnschädigung mit Teilleistungsstörungen, psychische Störungen und Neurosen), die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit der Fünffach-Impfung in ursächlichem Zusammenhang stünden, betrage 60.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltens und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Prozessakte, die beigezogenen Gerichtsakten sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Aufhebung des Überprüfungsbescheides vom 01.06.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2006 und Abänderung des zu überprüfenden Bescheides vom 03.03.1976 zu ihren Gunsten.

Der Beklagte hat zur Überzeugung der Kammer zu Unrecht entschieden, dass eine Abänderung des Bescheides über die Ablehnung der Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen eines Impfschadens im Zugunstenverfahren ausgeschlossen ist. Es besteht ein Anspruch der Klägerin auf Abänderung des Bescheides vom 03.03.1976 dahingehend, dass ihr ab dem 01.01.2002 Leistungen der Beschädigtenversorgung gewährt werden.

Gemäß § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit ganz oder teilweise zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen nicht erbracht worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden nach §

44 Abs. 4 SGB X Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. Der Anspruch der Klägerin auf Entschädigungsleistungen, der wegen § 44 Abs. 4 SGB X nur für die Zeit ab dem 01.01.2002 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs. 1 IfSG, der am 01.01.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin geltenden und weitgehend wortlautgleichen § 51 Abs. 1 BSeuchG abgelöst hat.

§ 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat folgenden Wortlaut:
Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3. gesetzlich vorgeschrieben war oder
4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens i. S. d. § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetztes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Nach „ 2 Nr. 11 Halbs. 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

Zu den sich aus diesen Vorschriften für die Anerkennung vom Impfschäden ergebenden Anforderungen hat das BSG in seinem Urteil vom 07.04.2011 wie folgt ausgeführt:

„Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG –ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde – erfolgte Schutzimpfung , der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine – dauerhafte – gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde:

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlichen-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitwirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – im sog Vollbeweis – feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60,58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 MwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfungen zurückzuführen sind.

Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung der BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sacherständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog. antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm („normähnlich“). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gericht auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zu Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als „Impfschaden“ bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirates „Versorgungsmedizin“ beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 – IV.c.6-48064-3;vgl auch Nr 57 AHP 2008):

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs. 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch

ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, das diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.“

Die Kammer folgt diesen Prüfungsanforderungen des BSG in vollem Umfang und hat sie auch für ihre Beurteilung zugrunde gelegt. Danach kommt die Kammer zur Überzeugung, dass die Voraussetzungen für die Feststellung einer Schutzimpfung mit Impfkomplikationen und einem daraus folgenden Impfschaden gegeben sind.
Nach Überzeugung der Kammer hat die zweite Quinto-Virelon-Impfung, die eine damals öffentlich empfohlene Impfung darstellte, bei der Klägerin zu Impfkomplikationen und einem erheblichen Impfschaden geführt. Die Kammer folgt insoweit im Wesentlichen den Feststellungen von Prof. Dr. H. in seinem Gutachten vom 09.03.2010 und seinen späteren gutachtlichen Stellungnahmen. Das Gutachten ist umfassend, in sich schlüssig und für den medizinischen Laien nachvollziehbar sowie auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre erstellt worden. Das Sachverständige hat sich ausführlich mit der streitigen Frage des Ursachenzusammenhangs zwischen der Impfung und den vorliegenden Gesundheitsschäden befasst und diesen nach Ansicht der Kammer mit überzeugender Begründung bejaht. Seine Einschätzung wird auch durch den vorgerichtlich von der Klägerin beauftragten Gutachter Dr. H. bestätigt, der ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Impfung und den Leiden der Klägerin bejaht hatte.

Die gegen das Gutachten von Prof. Dr. H. vorgebrachten Einwände von Prof. Dr. Sch. haben die Kammer nicht zu überzeugen vermocht.

Prof. Dr. Sch. beachtet nach Ansicht der Kammer nicht hinreichend die zahlreichen Anhaltspunkte und Symptome, die für eine Impfkomplikation mit nachfolgenden Impfschäden sprechen. Zu Recht wird von der Klägerin auf die Symptome nach der zweiten Impfung hingewiesen. Insbesondere können Fieber, schrilles Schreien, Abgeschlagenheit und ein Entwicklungsknick als Anzeichen einer impfbedingten Enzephalopathie gewertet werden (vgl. zu einem ähnlichen Fall: LSG Berlin-Brandenburg). Diese Symptome müssen auch nicht notwendigerweise auf eine blande Enzephalopahtie, gegen deren Bewertung als Impfkomplikation Prof. Dr. Sch. massive Bedenken äußert, zurückgeführt werden, sondern können auch bei dieser Sachlage einer regelgerechten Enzephalopathie zugeschrieben werden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, a. a. O., zitiert nach juris Rn. 47 ff). Im Übrigen wird wissenschaftlich durchaus davon ausgegangen, dass auch eine blande Verlaufsform der Enzephalopathie als Krankheitsbild nicht grundsätzlich auszuschließen ist. Auch insoweit ist den Feststellungen von Prof. Dr. H. zuzustimmen.

Das Eintreten eines gravierenden Entwicklungsknicks als Folge der zweiten Impfung ist für die Kammer erwiesen. Die Kammer hat insoweit keine Bedenken bezüglich der Glaubhaftigkeit der Angaben der Eltern der Klägerin. Die Eltern haben bereits im ersten Verfahren aus dem Jahr 1976, als ihnen also die Erheblichkeit dieser Umstände nicht bewusst gewesen sein dürfte, die hierfür maßgeblichen Tatsachen vorgetragen. Dabei finden sich aus der Sicht der Kammer keine nennenswerten Widersprüche zwischen den jetzigen und den damaligen elterlichen Angaben. Solche Widersprüche sind auch vom Beklagten nicht behauptet worden.

Als weiteres Indiz für den Eintritt vom Impfschäden ist weiter das unauffällige EEG der Klägerin vom 02.07.1971, also zu einem Zeitpunkt vor Beginn der Impfungen, anzusehen. Zu Recht wurde von Prof. Dr. H. und Dr. H. geltend gemacht, dass dieser Befund für eine Schädigung infolge der Impfung spricht. Es erschein unwahrscheinlich, dass eine Schädigung des Gehirns der Klägerin bereits vor der fraglichen Impfung vorlag. Im Übrigen haben die umfangreichen diagnostischen Abklärungen im Rahmen des Krankenhausaufenthalts der Klägerin vom 26.06.1971-23.07.1971 auch keine Hinweise auf andere Erkrankungen ergeben, die die im Anschluss an die Impfung aufgetretenen Komplikationen und Schäden erklären könnten.

Ferner ist zugunsten der Klägerin auf das Auslassen der dritten Impfung hinzuweisen. Die Eltern verweisen hierzu glaubhaft darauf, dass auf Empfehlung von Prof. Sch., der schon damals von einer Enzephalopathie infolge der Impfung ausging, die dritte Impfung ausgelassen wurde.

Soweit Prof. Dr. Sch. einwendet, dass fehlende Krampfanfälle gegen das Vorliegen einer Enzephalopathie sprechen, kann das hier auch kein anderes Ergebnis rechtfertigen. Insoweit folgt die Kammer den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. H., wonach bei einer Enzephalopathie Krampfanfalle nicht obligatorisch sind.

Im Übrigen ist festzuhalten, dass die ersten Impfkomplikationen bereits am ersten Tag der zweiten Fünffach-Impfung aufgetreten sind. Weiter kam es in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zu den genannten Entwicklungsstörungen bei der Klägerin. Demnach kann festgestellt werden, dass es auch an dem zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und den eingetretenen Komplikationen nicht fehlt.

Ob die von Prof. Dr. H. erhobenen Immunglobuline-Werte ebenfalls für Impfkomplikationen oder –schäden infolge der fraglichen Impfung sprechen, dann die Kammer dahinstehen lassen. Selbst wenn man diesen Befunden mit Prof. Dr. Sch. keine Bedeutung beimisst, ist aufgrund der o. g. Umstände die Kammer der Überzeugung, dass die erforderliche Impfschädigung hinreichend nachgewiesen ist.

Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass die zweite Quinto-Virelon-Impfung bei der Klägerin zu erheblichen Impfkomplikationen und zu einem dauerhaften Impfschaden durch Verursachung einer mentalen Behinderung geführt hat. Es ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung für das Gericht auch belegt, dass die erforderliche Wahrscheinlichkeit bei der Beurteilung der kausalen Zusammenhänge gegeben ist.

Nach alledem ist der angefochtene Überprüfungsbescheid zu beanstanden. Der Beklagte war demnach zu verpflichten, den Bescheid im Sinne der Klage abzuändern. Der Klage war daher in vollem Umfang zu entsprechen.

Die Kostenentscheidungen beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

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